Lehrkräfte erfahren in ihren Lernorten (so insbesondere in allgemeinbildenden Schulen im Bereich Sekundarstufe 1 sowie in Berufsschulen), dass die Schüler_innen oft ihre Internetrecherche auf Websites wie aktuell v.a. „gutefrage“[1] beginnen sowie gleich beenden -- und zwar auch bei gesellschaftlich strittigen Themen. Das Angebot ist eine digitale Ratgeber-Community in der sich Nutzende gegenseitig beraten. Diese kann der Anlage nach also nicht für profunde Wissensvermittlung stehen. Andere orientieren sich nah an ihren Peer-Groups und sozialen Verknotungen an Facebook, um Gatekeeper zu umgehen (Hasebrink et al: 47) – inklusive Echokammerbildung. Oft ist dies Resultat Algorithmus geleiteter Auswahlprozesse innerhalb der Umgebungen sozialer Medien, in denen aktive Rezipierende scheinbar zufällig Inhalte angeboten bekommen (ebd.: 48). Was fehlt sind geeignete Kompetenz, bewusstes performatives Wissen und eine daraus folgende Performanz interpersonaler Auseinandersetzung.
In einer Reflexion zur Herausbildung von Medienkompetenz unter Bezugnahme auf seine Aufgliederung der „Mediengenerationen“ und darunter eingeordneten „Generationseinheiten“ schreibt Mikos (2012: 53), dass es der Medienbildung obliege, den „Dialog und kommunikativen Austausch zwischen den verschiedenen Mediengenerationen zu fördern“. Und ferner (Mikos 2012: 53):
„Nur durch gegenseitiges lebenslanges Lernen kann eine konstruktive Gestaltung einer gemeinsamen Wirklichkeit gelingen.“
Die Öffnung von Denk- und Wahrnehmungsweisen sind dafür notwendig und in Folge dessen die Öffnung „des Zugangs zur Welt und zur Wirklichkeit“ (ebd.: 52). Wenige Jahre später hat sich die Konflikt- und Diskurslage innerhalb der Generationseinheiten entlang von fundamentalen Gesellschaftsfragen zur globalisierten Weltordnung besonders aber zur ‚Nation‘ einer polyphonen Postmigrationsgesellschaft mit sich wandelnden Geschlechterverhältnissen und Queeren-Konzepten so radikal verschärft, dass seine triftige Forderung konkretisiert werden muss. Denn es wird von Vielen zur existenziellen Bedrohung deklariert, dass sich die gemeinsame Wirklichkeit aus Uneindeutigkeiten symbolischer und sozialer Ordnungen mitzusammensetzt. Die Feststellung von Herausforderungen berechtigt aber keinesfalls zur Aufgabe eines Wahrheitsanspruchs hinsichtlich historischen Geschehens und vergangener Taten wie auch gegenwärtiger Tuns. Dieses einzuhaltende legitime Begehren, ist freilich nicht zu trennen von unterschiedlichen Perspektiven.
Medienbildung erfordert folglich mehr und anderes als verwertbare Fachkompetenz. Eine an Verständnis und Verstehen orientierte Bildung über mediatisierte Welten, geht notwendig einher mit politischer Bildung und somit auch mit einem begründenden Vergangenheits- wie begründetem Gegenwartsbezug. Ziele müssen dabei u.a. werden, zum einen die Befähigung herauszubilden Prozesse des „Doing Memory“ als wirklichkeitskonstruierende und gestaltbare Prozesse wahrzunehmen, zum anderen, dass diese bestimmten Bedingungen, Einflüssen und Interventionen unterschiedlicher Intensität unterworfen sind. Bei einer grundsätzlichen Verwerfung konstitutiver Erzählungen von Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaften oder einer nationalen Gemeinschaft kann diese als ‚Störung‘ der interagierend ausgehandelten Selbstverortung von Gruppierungen begriffen werden. Solch ‚Störung‘ erfordert – in Anlehnung am Symbolischen Interaktionismus – einen Narrativzentrierten Interaktionismus als methodische Interventionsmöglichkeit zur Konfliktregulation in divergierenden Gruppierungen. Der Rekonstruktion interaktiver Prozesse wird somit Aufmerksamkeitsvorrang vor weiterlaufenden Prozessen der Gruppenkonstitution eingeräumt. Derart sowohl in der diskursiven als auch in der handlungsbezogenen Interaktion generierte praktische „Störung“, geht im Kern aus einer zu einem gruppenbezogenen, politischen Interessenskonflikt kumulierten, alltäglichen sozialen Differenz hervor, die auch im Internet unvereinbar wirkt. Sie kann nicht über Admins und Verhaltensregeln weg moderiert werden, sondern verschafft sich potentiell umfassend sozialen Raum. Als interessenzgeleitete, soziopolitische Differenz markiert müssen sie daher in eine Arena der Auseinandersetzung rückgeführt sowie darin reversiert werden. Sie gehören hinein in ‚übersetzend‘ angeleitete Konfliktzonen, die Geschichten konstruktiv und emanzipatorisch ‚übererzählen‘, in wechselseitiger Tätigkeit gemeinsam erinnern und somit wahrnehmbar ‚Doing Memory‘ betreiben.
Ohne Zweifel ist der nationalstaatliche Bezug, wie erläutert, bei der Vermittlung deutscher Geschichte via plurimedialer Konstellationen omnipräsent, ja bei der Vermittlung tagespolitischen Ereignisse. Es ist Alltag und ‚Normalbetrieb‘ die ‚Nation Deutschland‘ als Bezug zu denken und zu reden. Aktuelle Informationen aus und in diversen Formaten begründen sich mit darin verwobener nationaler Argumentation. Hinzu treten Expressionen und Narrative aus zahllosen mediatisierten Aufbereitungen gesellschaftlicher Themen und Fragen, die sich bei Betrachtung ihrer intertextuellen Verknüpfung als national eingebettet erweisen. Diese Einbettung realisiert sich erst in der im Diskurs kontextualisierten, gruppen- und sozialformgeprägten, individuellen Rezeption in ihrer Bedeutung, oft wird sie auch erst dort gesetzt. Das wurde hier bereits festgestellt. Insofern iste eine lebensweltnahe Erinnerungskultur, ist Erinnerungspolitik im Zusammenhang mit Geschichtspolitik in einer pluralen Gesellschaft insbesondere vor dem Hintergrund einer sich polarisierenden Post-Migrationsgesellschaft von hoher Bedeutung und mit Sicherheit kein Randthema. Die Herstellung von Geschichtsbewusstsein und Erinnerungen respektive kollektiver Erinnerung ist Ort von Dominanzverhältnissen und Kampfplatz um Diskurshegemonien. Das wird besonders deutlich, wenn in der bundesdeutschen Gesellschaft neuerlich um vermeintlich traditionsgebundene Begriffe einer „Leitkultur“ der pluralen bundesdeutschen Gesellschaft und darin angelegter „Heimat“ ‚deutscher Individuen‘ gestritten wird, wie es sich brachial Bahn gebrochen hat. Mit einem statischen Identitätsverständnis wird dabei Stabilität jeglichen Lebensbezuges versprochen und behauptet. Das kollektive Gefühl der Beheimatung ist wie die Annahme eines Zu Hause allerdings so dynamisch, wie das Selbstverständnis eines Subjekts an sich. Dessen Selbstkonzepte erklären sich aus sozialen „Positionalitäten“ (Stuart Hall) im spezifischen soziokulturellen Raum nebst ökonomischer Ausstattungen und nicht aus eingefrorener 'Identität'. Dennoch sucht das Subjekt begründet (s)eine gruppenbezogene Selbstverortung: Jedoch in Erinnerungsgemeinschaften divergierender Interessenslagen. Wie auch ihre Zugehörigkeiten objektiv subjektiven sozioökonomischen Lagen unterworfen sind. Daraus bedingen sich Beheimatungskonflikte für viele Bevölkerungsteile, welche in zugänglichen Sozialsphären permanent mediatisiert stattfinden, vornehmlich für jüngere Erwachsene (und Jugendliche). Oftmals sind es scheinöffentliche Räume in geschlossenen Systemen und engen Resonanzräumen verschiedener Medienkulturen – in Echokammern und Filterblasen, also in kommunikativen ‘Einbahnstraßen‘ und ‘Squash-Hallen‘. Die angelegte Deutungsmatrix des dort emotional aufgeladen Erlebten freilich, der Rahmen des Verstehens, ist in der analogen Welt offline generiert.
Nur so kann im Subjekt ‚Wissen ‘ – wenn es aufnahmebereit ist – ‚erneuert‘ kognitiv verfangen. Ein „Faktencheck“ reicht nicht gegen opake „Tatsachenverzerrung“, es muss eine viable Geschichte sein, die an Erfahrenes auch emotional anschließt – bzw. aktiv tätig angeschlossen werden kann – und dennoch erhellend wie auch tragfähig Mythen (um)deutet. Nicht nur herkömmliche Bildungsarbeit an gewohnten Lern- sowie Erinnerungsorten ist dabei gefragt, sondern eine lebenslagen- und lebensweltorientierte, soziale Kommunikationsarbeit.
Ein Ausgang aus rein digital hinein in analog milieuverhaftete (mediatisierte) sozialräumliche sowie praktische Verhandlungsorte von Erzählungen jenseits der Social-Media-Welten kann dennoch aufgezeigt werden. Wenn nicht über Weiterbildungsinstitutionen, Jugendzentren oder Erinnerungsstätten gewünschte Klientel erreicht werden können, müssen solch Orte des unorthodoxen, informellen Bildungsgeschehens zur Vergegenwärtigung wirklichkeitsschaffender Erinnerungsprozesse eingerichtet werden. Dort können die wirklichkeitsverwerfenden, divergierenden Narrative in Einzelteile nachvollziehbar zerlegt und kenntlich gemacht werden – und dabei durchgängig transparent lebendig und streitbar diskutiert werden. Erreicht werden müssen gruppenbezogen, potentielle Diskutant_innen zirkulierender politischer Einstellungen; überdies aber die der transkulturellen Milieus bundesrepublikanischer Lebenswellten, deren Perspektiven solidarisch vermittelt werden können. Im besten Falle gelingt dies und ein gegenseitig verbindendes Verstehen von Perspektiven differenter sozialer Wirklichkeiten kann ins Werk gesetzt werden. Im schlechteren Fall werden immerhin noch Kontroversen verständlich benannt zu Tage treten.
Aus der Echokammer heraus, aus der kognitiven Verzerrung heraus, kann der ‚innere Erinnerungsfilm-Mash-Up‘ mit seinen auch produktiv ergiebigen Inhalten zur Diskussion gestellt werden. Die Mash-Ups sind unabgeschlossen. Sie können überdies umgeschrieben werden, entlang überzeugender, triftiger Erzählungen. Auf diese Weise lassen sich ‘Gegen-Gegen-Dokumentationen‘ zu selbstbezogen affektiven ‘Gegen-Dokumentation‘ in Medienkulturen positionieren. Das heißt freilich nicht, dass alle frei verhandelbar ist. Orientierung stiftende Mythen und Narrative der alltäglichen Gegenwart, die eine gegenwärtige Vergangenheit thematisieren müssen dafür als Mittel der Dekodierung gesellschaftlicher Verhältnisse inklusive sozialer Ungleichheiten, erkennbar gemacht werden. Der Weg aus den hasserfüllten Selbstbezügen enger Blasen führt über den ausgetragenen politischen Konflikt scheinbarer oder tatsächlich greifbarer Differenzen in der wirkmächtigen Erinnerungsproduktion – bei gleichzeitiger informierter Einbettung in soziale Wirklichkeiten nachweislicher Entscheidungen, Handlungsabläufe und Tätigkeiten. In vielfältig angelegten Konfliktzonen kann erzählte und erzählende Erinnerung über Gruppendiskussionen aus dem Puzzle der Mash-Ups abrüstend wirken: Politisch eindeutig differenzierend und – entgegen zirkulierender Polysemie beliebiger Bedeutungszuschreibungen – stigmatisierend festlegende 'Identitäten' in Wertschätzung veruneindeutigend. Wo eine Kontroverse herausgearbeitet wird, kann pointiert und erhellend konstruktiv im Dialog gestritten werden und damit unterlassene Anerkennung der Anderen schaffen.
So gestaltet sich einerseits Bewusstsein. Andererseits lässt sich über die Veränderung des situativen sozialen Kontextes auch Veränderung des Verarbeitungsprozesses herbeiführen, bzw. die der Verarbeitung der medienkulturell vermittelten Erfahrungen, da der Prozess der Aneignung vom Subjekt aktiv reflektiert und organisiert wird. Erleben wird in den mediatisierten Welten zur mediatisierten Erfahrung und begründet Horizonte aus denen sich neue Handlungsweisen ergeben – idealiter wären sie, nach Krotz (2016), „verbessert“ (vgl. ebd.: 37). Hier liegt die didaktische Möglichkeit begründet in die Produktion von Narrationen respektive. kulturhistorische Fake News oder in Medienkulturen vermittelte Mythen effektiv einzugreifen. Allerdings müssten dafür emanzipatorische Räume geschaffen oder sichergestellt werden. Denn jenseits von Verzerrungen realer Verhältnisse sozialer Welten, ist die dadurch angebotene Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten für das handelnde Subjekt von potentiell auseinandertreibender Komplexität, welche reduziert werden will. Gleichwohl vermag sie im Sinne bereichernder Heterogenität integrativ zu wirken.
[1] „Was möchtest Du wissen?“ fragt „gutefrage“ oberhalb eines Eingabefeldes; s.: URL (27.10.2022): https://www.gutefrage.net/frage_hinzufuegen
Literatur:
Hasebrink, Uwe; Merten, Lisa; Schmidt, Jan-Henrik; Hölig, Sascha (2017): Die Rolle von Social Media für Information und Meinungsbildung. In: merz. zeitschrift für medienpädagogik 61. (2), S. 42–49.
Krotz, Friedrich (2016): Wandel von sozialen Beziehungen, Kommunikationskultur und Medienpädagogik. Thesen aus der Perspektive des Mediatisierungsansatzes. In: Marion Brüggemann, Thomas Knaus und Dorothee Meister (Hg.): Kommunikationskulturen in digitalen Welten. Konzepte und Strategien der Medienpädagogik und Medienbildung. München, München: kopaed (Schriften zur Medienpädagogik, 52), S. 19–39.
Mikos, Lothar (2012): Mediengeneration, Mediennutzung, Medienkompetenz. In: Sonja Ganguin und Dorothee Meister (Hg.): Digital native oder digital naiv? München: kopaed, S. 41–54.