Diskussionspapier
1. Der Mensch als Individuum, als Subjekt ist nicht nur ein soziales Wesen, welches sich mehr oder weniger handlungsfähig und machtvoll in Gemeinschaften bewegt (den sozialen Räumen) und Verhältnisse herstellt. Das Subjekt ist mit seinen spezifischen Verstrickungen sozialer Verhältnisse in seinem Sozialraum / seinen -räumen beweglich, aber auch verhaftet. Es ist darin Bedingungen unterworfen, die von Macht und Herrschaft bestimmt sind und die Wirklichkeit des vermeintlich freien Subjekts vorprägen. Das Subjekt, das Ich und der/die Andere selbst sind Raum und Verhältnis dieser verinnerlichten Sozialbeziehungen, welche wiederum aus Machtverhältnissen und Herrschaftsformationen hervorgehen. Das Private ist daher vielfach politisch.
2. Diese subjektive wie auch kollektive(n) Wirklichkeit(en) betrifft/betreffen hervorragend (nicht allein) die miteinander verwobenen Dimensionen Klasse, ‚Rasse‘ (Race), Abilität und ‚Geschlecht‘.
3. 'Geschlecht' bzw. Gender ist die Kategorie eines sozialen Verhältnisses unter Menschen, welches u.a. im diskursiven Raum, im Raum der Zeichen und Symbole hergestellt und durch Machtbeziehungen (Vermachtung) geordnet wird. Vergeschlechtlichte Machtbeziehungen repräsentieren sich in gesprochener und verschrifteter Sprache. Dies umfasst sowohl gewaltvoll konstruierende Zuschreibungen/Zuweisungen in einem diskriminierenden Konstruktionsprozess von Geschlecht, als auch die Möglichkeit zur Dekonstruktion der symbolischen Ordnung der Geschlechterverhältnisse unter den Bedingungen machtvoller Einwirkungen aus den Gesellschaftsverhandlungen. “Vermachtung bedeutet, das Leben der einen zum Mittel für das Leben und die Zwecke der anderen zu machen - in mehreren zusammenhängenden dualen Relationen zwischen Herr und Knecht, Mann und Frau, alten und jungen, eigenen und fremden Leuten” (Cornelia Klinger)[1].
4. Der Unterstrich _, auch ‚Gender Gap‘ genannt, verweist im Anschluss an Steffen Kitty Herrmann auf eine praktische Möglichkeit, Subjekte jenseits der Zweigeschlechtlichkeit zu repräsentieren. Statt eines Unterstrichs wird in der Praxis inzwischen überwiegend das/der Gender-Sternchen / Gender-Star / Stern / Asterisk " * " verwendet, mit welchem ebenfalls auf die Konstruiertheit der Kategorie ‘Geschlecht’ verwiesen wird und das seiner ursprünglichen Idee nach an jeder beliebigen Stelle eines Wortes eingefügt werden könnte, z.B. L*adyfest. Mittlerweile gewöhnlich erfolgt die Einsetzung aber stets vor der Femininum-Bezeichnung des Wortes (z.B. Aktivist*innen). Der " * " erzielt dem zuvor gesetzt explizit die Repräsentation des offenen Raumes einer nicht abgeschlossenen Zuordnung einer Geschlechtlichkeit, v.a. keiner auferlegten Zweigeschlechtlichkeit (Binarität). Das hebt nicht die Möglichkeit einer vereindeutigten Gender-Zugehörigkeit auf, die sich entweder durch einen bewussten subjektiven Prozess der Selbstbestimmung des Subjekts ergibt oder durch dessen vereindeutigenden Position im soziopolitischen Raum.
5. Geschlecht bzw. Gender ist zudem die Kategorie eines sozialen Verhältnisses, welches u.a. im Raum der zwischenmenschlichen Interaktion in einem ständigen Prozess des Alltags hergestellt wird, einem Doing Gender. Neben einem tätigen Prozess des Austausches von zuschreibenden Zeichen und Symbole steht also herausragend ein körperliches ausagieren von Geschlechtlichkeit sowie Aushandlungsprozesse sozial zugewiesener Rollen. Die vergeschlechtlichten Rollen sind gleichermaßen rassifiziert, klassifiziert und nach zugewiesener Befähigung geordnet. Diese Aushandlungen vollzieht sich somit in und unter den gesellschaftlichen Machtbeziehungen (Vermachtung) und können nur unter diesen geschehen. Jene sind allerdings dynamisch und veränderbar.
6. Der Gender-Gap " _ " ermöglicht es Subjekte, jenseits der Zweigeschlechtlichkeit, geschlechtergerecht zu repräsentieren, zugleich durchtrennt er strukturelle Gleichheit. Durchgesetzter erscheint der Gender-Star (Asterisk; Stern; Sternchen) " * ", der potenzielle Vielheit und Vielfalt im Subjekt und den Subjektverhältnissen markieren will. Beide sind eine Intervention in die Verschriftlichung von Geschlecht. Ursprünglich im IT-Bereich als Symbol für eine divers beliebige Zeichenanzahl eingesetzt, deuten verbreitete Anwendungen des " * " m.E. auf einen sozial beliebigen, dem gegenüber ignoranten Gebrauch. So ästhetisch entkernt, werden die symbolisch verhandelten, wirklichen Machtverhältnisse nicht mehr kenntlich. " * " korrespondiert somit mit einem Begriff von Diversität, welcher Menschen als vielfältige Kompetenzbündel versteht. Die Leerstelle " _ " ist dafür im Lesefluss ein Bruch und symbolisiert damit sozioökonomischen Gap gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse und –gefälle: z.B. den verinnerlicht kollektiv geteilten, greifbaren Gender-Pay-Gap (bzgl. der Lohnarbeitsverhältnisse). Als Folge dessen greift bspw. dann der Gender-Time-Gap (bzgl. der Teilzeitlohnarbeitsverhältnisse), in welchem die geschlechtsspezifische Einteilung/Zuteilung der Frau* zur Verantwortlichen für gesellschaftlich notwendige Reproduktionsarbeiten zum Ausdruck gebracht werden kann. Stichwort Hausfrauisierung und Sorgearbeit (Care). Der dann anschließende Gap des sozialen Gefälles ist unter gegenwärtigen Bedingungen der Gender-Pension-Gap. Infolge der zeitlich eingeschränkten und geringer entlohnten Erwerbsarbeit kommt es bei Frauen* zu einem deutlich niedrigeren Rentenniveau als bei Männern*. Frauen* geraten signifikant mehr in Altersarmut als diese. Diese Form der Vermachtung ist eine kapitalistische. Das Zeichen der Vielheit " * " vermag diesen Widerspruch zum Versprechen der Gleichheit aller und Gerechtigkeit unter Gleichen nicht zu repräsentieren.
7. Hat zu Beginn seiner jungen Geschichte der Gender-Star eine Klassendimension noch mitgedacht, verlor sich dies in der Praxis schnell. In dieser erscheint ' * ' heute als Symbol liberaler Werte freier Selbstbestimmung über das eigene Ich und der Verweigerung von gewaltvollen, unterdrückenden Zuschreibungen (und damit Zuweisungen) Interessierter und Privilegierter, die davon Vorteile erwarten dürfen. Dieser Anspruch auf Selbstbestimmung des Subjekts auf individuelle Selbstbestimmung erfährt Repräsentanz. Keine Repräsentanz erfährt jedoch das in dieses Subjekt eingeschriebene sozioökonomische Verhältnis in der es wächst und lebt. Es ist in Klassenverhältnisse verstrickt vermachtet. Konkret: der Gender-Star lässt eine potenziell diskriminierende Positionierung des Individuums in der Gesellschaft, d.h. wirkmächtigen Klassismus, außer Acht.
8. Als Markierung von Konstruiertheit und dynamischer Unabgeschlossenheit spezifischer Genderdimension bleibt der " * " jedoch als Bezeichnungsweise eröffnend und triftig: bspw. Mann*/Frau*/Trans*- (oder trans*) Mensch.
9. Der Gender-Star ist Zeichen, Ausdruck und wirkmächtiges Mittel eines legitimen Selbstbestimmungsanspruchs und Zuspruchs an Andere innerhalb eines Streits und sozialen Kampfs um liberal-bürgerliche Freiheitsrechte und Gerechtigkeit – generell aber eines Kampfes zur Durchsetzung von Menschenrecht. Dieser Streit fließt jedoch in Modernisierungs- und Umstrukturierungsprozesse ein, die noch nicht ausgeschöpfte Potenziale und Ressourcen der diversen Arbeitnehmer_innen zugänglich machen möchten. Warum es überhaupt einen symbolischen Kampf erfordert(e), vielfältige Möglichkeitsräume der Geschlechtlichkeit auszudrücken, verschwindet endgültig in einer beliebigen Anwendung, die reale Machtverhältnisse nicht mehr reflektiert. Die Gemeinsamkeit von legitimen Selbstbestimmungsanspruch auf Individualität und unerschlossener/unabgeschöpfter Diversität macht den Gender-Star zum Instrument eines progressiven Neoliberalismus. Ein systematischer Blick auf die Institutionen, Einrichtungen und Unternehmen in denen sich das Gendern mit " * " durchsetzt bzw. durchgesetzt hat und sich zunehmend standardisiert, kann dies belegen.
10. Der Gender-Gap " _ " erhält die Unabgeschlossenheit geschlechtlicher Konstruktion, lässt im Lesefluss (ansatzweise) stolpern und signalisiert mit dem Symbol der Lücke – der Kluft – ein soziales Gefälle, welches die Verschriftlichung des, also in der Bewerkstelligung eines trügerischen Schreib- oder Zeichenframings, Gleichberechtigungsversprechens des Liberalismus, heute das des Chancenvielfaltsversprechens des Neoliberalismus stört, bestenfalls zerbricht.
11. Mit Gender-Star und Gender-Gap ‚konkurrierende‘ Schreibweisen des Genderns, wie die des institutionell geregelten Gender-Mainstreamings sowie die des in der Feministischen Bewegung der zweiten Welle eingebetteten Binnen-I‘s im Sinne des consciousness raising (oder awareness raising) und Self Empowerment, sind im Kontext ihrer jeweiligen politischen Strategien zu lesen und zu verstehen. Sie erforderten noch eine hier außerhalbstehende gesondert beachtende und würdigende Betrachtung. Aus emanzipatorischer Perspektive greifen beide nicht mehr zureichend, oder durchgedacht-- im Sinne ihrer Absicht -- generell nicht mehr. Sie übergehen die Dimensionen der Diversität und der Klasse.
12. Deshalb: versteht mensch/organisation* sich als progressiv, als sozialparteilich klassenbewusst und mit Diskriminierten solidarisch, sollte sie* generell den Gender-Gap " _ " nutzen und den Gender-Star " * " nur reflektiert gezielt einsetzen; u.a. wie in oben beispielhaft angeführten Fällen. Weiter müssten bewusst aufgeführte Vereindeutigungen von Genderzugehörigkeit seitens der Subjekte ebenso anerkannt werden, wie Veruneindeutigungen. Sie dürfen nicht in ihrer Selbstbestimmungsfähigkeit entmündigt, enteignet und ihrer Handlungsfähigkeit beraubt werden. Eine dominante Infragestellung und 'Gefährdung' von gewohnter Eindeutigkeit, legen gegenwärtig reaktionär wirkende Kräfteverhältnisse allerdings auch nicht nahe. Denn das Gegenteil ist aktuell der Fall: die politischen Verhältnisse sind überwiegend rechtskonservative, autoritäre und/oder radikal-regressiv raumgreifende. Die soziopolitische Position der gendergerecht Schreibenden wiederum, wird demgegenüber vorerst als abseitig liberal-bildungsbürgerlich, gar als arrogant elitär oder lebensfern avantgardistisch wahrgenommen und/oder wird in diesem Sinne erfolgreich diffamiert. Für einen wirksamen Aufbruch des vergeschlechtlichenden Frames (Rahmung) traditionaler und gewohnter Schreibweise ist daher ein solidarischer Klassenbezug unumgänglich notwendig. Mit dem Zeichensatz des " _ " wird die unvermeidlich abstrakte "Besserwisserei" grundsätzlich verhafteter und somit überzeugender.
13. Das derzeit mächtigste Ver- und Beharrungsvermögen in gesellschaftlichen Verhältnissen soziokultureller sowie sozioökonomischer Ungleichheit und Ungerechtigkeit, liegt in der gleichgültigen oder interessengeleiteten Reflexionsunlust, der Reflexionsverweigerung oder der aggressiven Reflexionsabwehr begründet. Daraus erfolgt Handlungsstarre und Transformationsunwille, aktiv ausgehend von bleierner Konvention oder eiserner Reaktion. Dem muss mit der Unruhe und Dynamik enervierender Intervention wie mit aufdringlicher Konfliktbereitschaft und kontroverser Aushandlungssuche emanzipativ begegnet werden – in allen kommunikativen und somit sozialen Räumen.
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14. Zusatz entgegen eines nunmehr gängigen Einspruchs wider Gap und Star, das heißt einem Plädoyer für eine (vermeintlich) barrierefreie Doppelpunktsetzung entgegnend. Dabei wird der " : " unter der Maxime der Inklusionsaufforderung hinsichtlich Sehbeeinträchtigungen und Lese-Störungen als disabilitätssensibels Gebot für die Praxis angenommen, und das zwingend. Die Leseassistenz stolpert beim Vorlesen wirklich nicht über den " : ". Das ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal. Der Gender-Gap ist über einzurichtende Assistenzsysteme (Screenreader) für Hörende desgleichen verlautet barrierefrei. Der Gap ist für diese Systeme verständlich vortragbar -- eben nur mit moderat bruch-überspringender Gender-Pause (jedoch keinem prägnantem Glottischlag). Hier beispielhaft ausgeführt nachzuhören[2]. Anders als der " * ", ist dieser " _ " zudem bei individuell gehemmter Leseaufnahmefähigkeit (bei der vulnerablen eigenständig geführten Lektüre) trotz ungewohnter (nicht etablierter) Textverläufe, eine weniger verstörende (fundamental irritierende / blockierende) Zeichendarstellung und insofern sehr barrierearm. Weil er nicht im Wege steht. Die alternativ angedient angebotene Schreibweise mittels " : " ist zwar mit digitaler Assistenz tatsächlich eingefügt hörfreundlich hörbar. Sie ist auditiv ungestört pausenarm barrierefrei und trotzdem oberflächlich geschlechtergerecht. Allerdings fügt sie sich dagegen nicht im Lesefluss der Schrift ein. Dort wird der " : " für vulnerabel Lesende zum buchstäblichen Block im fließenden Zeilengefüge.
15. Überdies, und das ist im Sinne der Intention des Genderns maßgeblich: die Doppelpunktsetzung gibt jegliche soziale Stellungnahme und vor allem jegliche politische Kommunikationsfähigkeit sowie jegliche kritische Markierungsmöglichkeit eines in verstrickte Machtverhältnisse hinein intervenierenden Zeichenapparats auf. Der Gebrauch des Doppelpunkts entpolitisiert die soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit der Geschlechterverhältnisse vollständig. Schlussfolgerung: ich befürworte auch unter dem Gesichtspunkt zweifellos notwendiger Einräumung von Barrierefreiheit den Einsatz des Gender-Gaps als emanzipatorische Praxis.
[1] Klinger, Cornelia (2014): Selbstsorge oder Selbsttechnologie? Das Subjekt zwischen liberaler Tradition und Neoliberalismus. In: Maria Dammayr und Brigitte Aulenbacher (Hg.): Für sich und andere Sorgen. 1. Aufl. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe, S. 31–39, S. 39.
[2] www.netz-barrierefrei.de (2021): URL (15.07.2024): https://www.youtube.com/watch?v=b_LcUtmCTEo&t=38s